Samstag, September 28, 2019
Verständigung bedeutet einander verstehen
Wir beschreiben in diesem Beitrag die Werturteile der Mehrheit in ihrer Betrachtung der Minderheit der Zigeuner, wobei wir in diesem Bericht unter Zigeunern nur die Jenischen und die Sinti erfassen. Die Jenischen und die Sinti sind zwei Minderheiten, die über viele Länder Europas verteilt sind. Die Werturteile der Mehrheit decken sich in etwa in allen Ländern Europas.
Geschichtliche Entwicklung
In jenem medizinisch-naturwissenschaftlich bestimmten Denken, welches vom Beginn der Aufklärung an bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Geschichte Europas wesentlich mitgeprägt hat, war Gesundheit für breite Bevölkerungsschichten der Maßstab des Konzeptes von Normalität und umgekehrt. In der Folge wurde in der bürgerlichen Gesellschaft leicht alles, was nicht „normal“ war, als „krankhaft“ betrachtet. Dazu konnte alles gehören, was nicht den kulturellen, gesellschaftlichen, moralischen oder juristischen Vorstellungen der Zeit von akzeptablem Verhalten oder Existenzformen entsprach (z. B. nichtsesshaftes Leben). Diejenigen, die sich nicht konform verhielten oder randständig waren, sollten möglichst „geheilt“ und „reintegriert“ werden. Ein stereotypes Ideal eines „Gesunden“, d. h. eine Vorstellung davon, was als „gesund“ und „normal“ zu gelten hat, ist dabei aus Gründen der notwendigen Abgrenzung untergründig immer präsent gewesen. Zugleich konnte dieses Ideal aber auch bewusst zur gezielten Ausgrenzung missbraucht werden.
Seit dem Jahre 1520 gibt es die Lehre Luthers, der das Brechen des natürlichen, kindlichen Eigenwillens als Erziehungsgrundlage im "Sermon von den guten Werken" empfohlen hat, damit sollten die als sündig geborenen Kinder zu gottesfürchtigen Menschen herangezogen werden. Das Brechen des natürlichen, kindlichen Eigenwillens beendet bewusst und gewollt die Entwicklung der Psyche, die in der damaligen Zeit als eine Art natürlicher Trieb verstanden wurde, der mit großer Grausamkeit.zu Gunsten des Kindes ausgemerzt werden musste, um einen gehorsamen Diener Gottes aus ihm zu machen.
Alles Natürliche im Menschen sollte aberzogen werden, um den Menschen zu einem reinen Vernunftwesen zu machen, ohne natürliche Instinkte, ohne Erkenntnis und Bewusstwerdung, ohne Sexualität. Der Mensch hatte nur die Aufgabe, Gott zu dienen und ihm zu gehorchen. Luthers Schriften fanden eine weite Verbreitung.
Das Brechen des natürlichen Eigenwillen des Kindes hat weitreichende Folgen. Die menschliche Intelligenz wurde damit eingestellt, von einem selbsternannten Vertreter Gottes, der die Schöpfung Gottes (den Planeten Erde) damit einer harten Probe unterstellt hat….
Zeitalter des Nationalsozialismus
Der Schweizer Alfred Siegfried, Leiter des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» von 1916 bis 1959, vertritt die Thesen des Graubündner Psychiaters Josef Jörger, der ein Lehrmeister des deutschen Rassenhygieniker und Zigeuner-Experten Robert Ritter war. Diese Thesen bauen auf Sichtweisen der Mehrheitsbevölkerung gegenüber den Zigeunern aus vielen Jahrhunderten auf.
Alfred Siegfried hat sein Programm zur Auflösung des Fahrenden Volkes in der Schweiz ganz offen formuliert: «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinanderreissen.» In der Schweiz sollte Alfred Siegfried im Auftrag der Regierung das Fahrende Volk vernichten. In Deutschland, im großdeutschen Reich und in allen eroberten Ländern erfolgte eine “Säuberungsaktion” gegenüber dem Fahrenden Volk, es sollte erfasst und vernichtet werden. Jenische und Sinti starben in den Heilanstalten und in KZs der Nazis.
Die Sichtweise der Mehrheit und die Sichtweise des Fahrenden Volks
Zwei unterschiedliche Kulturen, die der Fahrenden und die der Mehrheit trafen aufeinander. Die ganz andere Kultur des Fahrenden Volkes wurde von der Mehrheit aus ihrem Verständnis, aus ihrer Sicht, nach dem, was sie kannte und zu erkennen glaubte, also nach ihren Maßstäben negativ bewertet. Die Mehrheit erkannte die andere Kultur nicht als etwas Eigenständiges, sondern versuchte die Zigeuner per Zwang umzuerziehen, um sie in die Kultur der Mehrheit einzugliedern. Sie durften ihre Kultur nicht leben. Sie sollten einsehen, dass sie so nicht leben durften, sie sollten sich dafür schämen und wurden gezwungen sich zu ändern, um der Erwartung und der Sichtweise der Mehrheit zu entsprechen….
Rechthaberei und Besserwisserei von Leuten, die nichts annehmen, nicht zuhören und das Fahrende Volk bis heute entmündigen, mit einer nicht der Realität entsprechenden Sichtweise, bilden eine sehr schwere Belastung im alltäglichen Umgang miteinander.
Bei Rechthaberei und Besserwisserei spielen Misstrauen und der daraus resultierende und immer stärker um sich greifende Materialismus eine wichtige Rolle. Misstrauen ersetzt das Vertrauen, das bei vielen Angehörigen der Mehrheit abgeschafft wurde. Alle humanistischen Werte unterliegen der materialistischen Denkweise, die alles Leben in Gebrauchsobjekte verwandelt. Materialismus ist eine Art Giftwolke, der die Menschheit erfasst und alles Leben unter ihr erstickt. Leben wird zum Gebrauchsobjekt, das den Materialisten einen Nutzen erbringen muss.
Die nicht der Realität entsprechende Sichtweise der Mehrheit auf die andere Lebensweise der Jenischen und der Sinti hatte Jahrhunderte lang entsetzliche Folgen auf diese beiden Völker, gipfelte in diesem entsetzlichen Völkermord der Nazis und hat sich bis heute erhalten, um sich in Vorurteilen gegen die Angehörigen unserer beiden Völker auszuwirken.
Das Fahrenden Volk kannte und kennt seine Kultur, es lebte und lebt seine Kultur. Die Kultur des Fahrenden Volkes steht in Einklang mit Gott und der Natur, die 10 Gebote sind eine der Grundlagen dieser Kultur, die Ehrfurcht vor Gott und seiner Schöpfung spielen eine sehr wichtige Rolle. Man lebt so, dass man sich nicht schämen muss, weil man nichts tut, was eine Schande wäre. Friede auf Erden, Achtung gegenüber sich selbst und dem Nächsten sind weitere Grundlagen der sehr alten Kulturen der Jenischen und der Sinti.
Wir sind nicht die, für die Ihr uns haltet, wir sind das Fahrende Volk, Jenische und Sinti, mit einer anderen, eigenen Kultur, die eine Bereicherung der Kultur der Mehrheit ist.
Die Geschichte des Fahrenden Volks ab dem frühen Mittelalter
Wir gehen in unserem Bericht jetzt auf die lange vergangene Geschichte des Fahrenden Volks innerhalb der Mehrheitsbevölkerung der Länder, in denen sie lebten, ein.
Die Jenischen zogen zunächst zu Fuß durch das Land, später, vor rund 600 Jahren waren sie gemeinsam mit den Sinti auf der Wanderschaft. Vor rund 400 Jahren kamen sie mit handgezogenen Wagen, vor rund 300 Jahren mit Hundewagen und eines Tages, vor rund 150 Jahren dann mit einem von einem Pferd gezogenen Wagen. Ihre Leistungen wurden von der Bevölkerung geschätzt. Es kam aber immer auf die Zeit an. Wenn es ihnen finanziell gut ging, wurden sie diskriminiert und verfolgt. Dann wollten die Gilden den Wettbewerb ausschalten.
Die Zigeuner kamen, blieben eine Zeit lang beim Dorf und zogen weiter. Dorfbewohner, die dies nicht begriffen, nahmen daran Anstoß: man zog nicht umher, man lebte sesshaft am Ort. Das Weiterziehen des Fahrenden Volks wurde dann als 'umherziehen' bezeichnet, dieses Wort ist negativ belegt. Umherziehende irren unstet, ziel- und heimatlos umher, in den Augen der sesshaften Mehrheit.
Missverständnisse führen zu Vorurteilen
Hier fängt eine lange Reihe von Missverständnissen an, die wir uns in diesem Bericht einzeln anschauen wollen, um sie zu beleuchten und damit jenes Verständnis für die andere Kultur der Jenischen und der Sinti zu wecken, das es in den vergangenen Jahrhunderten leider nicht gab.
Auf der Wanderschaft
Das Fahrende Volk zieht nicht unstet und ziellos umher, es zieht weiter, von einem Ort zum anderen, es arbeitet nur kurze Zeit an einem Ort. Menschen, die weiter ziehen, sind Reisende. Die Jenischen sind ein, in der warmen Jahreszeit, reisendes Nomadenvolk, das in den kalten Wintermonaten an einem Platz bleibt. Sesshafte Bewohner, die Jahrein Jahraus die gleichen Nomaden kommen und gehen sahen, hätten darin die Beständigkeit sehen können, die sie beim Fahrenden Volk vermissten.
Leben am Feuer
Beständigkeit schafft Vertrauen, die 'umherziehenden' Fremden wurden argwöhnisch beobachtet. Ein verführerischer Duft wehte hinüber zu dem kleinen Dorf, vom Feuer der Fremden, die sich gerade ihr Abendessen briten. Und dann fehlte ein Huhn, es hatte sich verlaufen und fand sich später wieder, aber da war es bereits zu spät, denn die Fremden waren bereits des Diebstahls verdächtigt worden.
Das Feuer ist in den Kulturen der Jenischen und der Sinti sehr wichtig. Man trifft sich am Feuer, um zusammen zu sein und sich von den Erschwernissen des Tages mit seiner Hektik, seiner Arbeit zu erholen und Kraft zu schöpfen für den nächsten Tag. Feuer steht für Wärme und Gemütlichkeit und ist als Kaminfeuer auch bei der sesshaften Mehrheit bekannt.
Heimatlose, arme Leute ?
Die Reisenden hatten nur wenig Hab und Gut, also mussten sie arm sein, arme Leute, die heimatlos umher zogen... Nomaden haben seit jeher nicht viel Hab und Gut, denn auf der Reise stört das, so viel kann man nicht mitnehmen, und so viel braucht man doch gar nicht. Man hat sich selbst, die Frau, die Kinder. Was braucht man mehr? Die Heimat ist das Land, in dem man lebt, wieso heimatlos? Die Familie, der Platz auf dem man verweilt, ist das Zuhause für ein paar Tage, dann zieht man weiter.
Diebesgesindel ?
Es wurde behauptet, dass die Zigeuner arme Leuten seien, die da zerlumpt und heimatlos umher irrten. Sie hatten oft schöne Kleidung und Schmuck. Sie benutzten oft Silberstücke, die sie zu Halsketten, Armbändern zusammensetzten… Sie gerieten in den Verdacht, zu stehlen, denn von dem bisschen Geld, das sie mit ihrer Ware verdienten, konnte man doch nicht leben, mit so vielen Kindern..., wahrscheinlich stahlen sie und bettelten auf ihrem Weg um Almosen. Die Städter müssen sich alles kaufen, was die Natur bietet, es gibt viele Kräuter, die man zu köstlichen Mahlzeiten verarbeiten kann, wenn man sie kennt. Es gibt Beeren, Früchte, Pilze. Wer die Natur kennt, ehrt und liebt, ist in ihr zuhause und kann sich auch von ihr ernähren.
Müßiggang ist aller Laster Anfang ?
Die Dorfbewohner nahmen Anstoß an den Frauen und Mädchen, die am Abend am Feuer tanzten, vor den Männern. Dies sei ein liederlich-unzüchtiger Lebenswandel, meinten sie. Im Dorf war das ganz anders: eine Frau, die auf sich hielt, ging nicht tanzen, sie saß zuhause am Kamin und strickte Socken oder machte Handarbeiten, die Mädchen wurden ebenfalls zu Zucht und Ordnung angehalten. Eine Frau musste immer etwas tun, Müßiggang sei aller Laster Anfang. Man tanzte nicht einfach so, am Abend, es gab zu tun, man hatte zu arbeiten. Tanzen galt als Freizeitbeschäftigung, die nur bei den selten stattfindenden Festen ausgeübt werden durfte und sehr argwöhnisch beobachtet wurde. Ein Frau, die tanzte, wurde meistens als verdorben beurteilt. Getanzt wurde früher nur von Mädchen, die auf der Suche nach einem Partner waren. Eine verheiratete Frau tanzte nicht, auch die Männer tanzten meistens nicht, denn das war den unverheirateten Burschen vorbehalten.
Liederliche, ausschweifende Zigeunerinnen ?
Dieses angeblich ausschweifende Leben der Zigeunerinnen, die den bodenständigen Ehemännern gar so gut gefielen, war den sesshaften Dorf-Bewohnerinnen der absolute Dorn im Auge. Auch diese mitreißenden Melodien klangen ganz anders als die Musik der Blaskapelle, deren Mitglieder trotz der Notenblätter nur selten den richtigen Ton trafen. Die Zigeuner spielten aus dem Kopf, Melodien mit Herz und Gefühl.
Die Dorfbewohner wussten nichts davon, dass ein anderes Volk mit anderen Sitten und einer anderen Kultur kurze Zeit bei ihnen Rast machte, um ihre Waren bei ihnen zu verkaufen. Sie beurteilten und verurteilten das Fahrende Volk aus ihrer Sicht. Sie kannten nur das Leben, das sie gewöhnt waren. Die Fremden lebten ganz anders. Diese Andersartigkeit erregte Aufsehen, Misstrauen, Neid. Sie durften nicht so sein, wie sie waren, sie mussten angepasst werden. Die Dorfbewohner verurteilten die Zigeuner aus ihrer Sicht, die der fremden Kultur der Zigeuner nicht gerecht wurde. Sie erkannten nicht, dass die Zigeuner ganz anders lebten, weil sie eine andere Kultur haben. Sie unterstellten ihnen eine ganze Reihe von negativen Verhaltensweisen, die um jeden Preis abgeschafft werden sollten.
Unzucht, Verwahrlosung, Laster ?
Diese Leute mussten anders leben: Dieses angeblich unstete Leben konnte man - in der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft - nicht verantworten. Die armen Kinder der Zigeuner, die in einer angeblich unzüchtigen, verwahrlosten, lasterhaften Umgebung aufwachsen mussten, wuchsen in Wirklichkeit in der strengen Kultur des eigenen Volkes auf. Zigeuner reisen mit der Familie, die Männer musizieren, die Frauen tanzen. Unzucht kommt bei Familienangehörigen eher nicht vor, da macht niemand mit. Wer nicht von der eigenen Familie schwer bestraft werden will, wird niemals unzüchtig sein. Die angebliche Verwahrlosung war eine Annahme der sesshaften Bevölkerung, die in der Andersartigkeit der Zigeuner negative Verhaltensweisen sah, die es gar nicht gab. Die Frauen zeigten keinen ausschweifenden Lebenswandel, sie betrieben keine Unzucht. Sie waren mit ihrer Familie unterwegs, um ihre Waren in den Dörfern zu verkaufen. Die Zigeunerinnen wollten die Männer der Dorf-Bewohnerinnen nicht, denn sie waren bereits verheiratet, in der Kultur der Zigeuner geht man nicht fremd, das wird sehr schwer bestraft.
Die Kinder der Zigeuner durften sogar noch abends am Feuer dabei sein, die eigenen Kinder lagen schon längst in ihren Betten, windelweich geprügelt, weil sie wieder einmal nicht gehorcht hatten und trauten sich nicht mehr, sich zu mucksen. Die Kinder der Zigeuner hüpften ums Feuer, freuten sich des Lebens, des Zusammenseins mit der Familie, bei toller Musik. Es ging ihnen gut, sie hatten zu essen, sie wurden von ihren Eltern und allen Verwandten geliebt und beachtet. Ihre Fragen wurden beantwortet, mit Interesse und Geduld seitens der Familie, nicht mit der mürrischen Abwehrhaltung, mit der man bei der sesshaften Mehrheit doch sehr häufig die Fragen der Kinder im Keim erstickte.
Die Dorfbewohner verurteilten die fremden Zigeuner aus ihrer Sicht und aus dem, was sie gewohnt waren zu leben.
Liederliche, unordentliche, leichtfertige, unanständige Frauen am Feuer, da floss bestimmt Alkohol in Mengen wie bei den Festen der züchtig gekleideten Sesshaften und man weiß ja, was Alkohol anrichtet… Auch die Zigeuner tranken zuweilen Alkohol, aber sie konnten auch ohne Alkohol lachen und fröhlich sein, genauso fröhlich wie die betrunkenen, angeblich anständigen Sesshaften beim Dorffest. Zigeuner reisen im Familienstamm: die Eltern, deren erwachsene Kinder, ihre Partner und deren Kinder. Ehebruch kommt bei Zigeunern sehr selten vor, siehe oben. Bei den Sesshaften gehört Ehebruch zur Tagesordnung, Männer und Frauen brechen aus der fest geregelten Gesellschaftsordnung, da tut man dann so, als würde man nichts bemerken. Erlaubt ist das nicht, aber was alle tun, ist ‘normal’. So kommt es, dass Ehebruch bei der sesshaften Mehrheit etwas ‘Normales’ ist, der den anders aussehenden und anders lebenden Zigeunern unterstellt wird und bei ihnen verboten werden soll, obwohl sie ihn gar nicht begehen.
Züchtigung der Ungehorsamen und Lasterhaften
Im Jahre 1637 begann man mit der «Züchtigung der Ungehorsamen und Lasterhaften». In die Lokalitäten des Oetenbach kamen die als lasterhaft und zuchtlos geltenden oder sonstwie den gesellschaftlichen und ökonomischen Normen nicht entsprechenden erwachsenen «Zuchthäusler» zwecks Besserung oder als Unverbesserliche. Man musste diesen lästigen, nutzlosen Fremden Disziplin und Beständigkeit beibringen. Erwachsene wie Kinder wurden Zwangsarbeiter in der internen Textilproduktion, die schon 1657 «Fabrik» hiess. Da wurden Strickwaren, «Nördlinger Loden» und schwarzes «Oetenbach-Tuch» fabriziert. In Fusseisen und unter oftmals täglicher Züchtigung durch Schläge wurden im Oetenbach die zur Zwangsarbeit im Rahmen des entehrenden «Schellenwerks» Eingewiesenen gehalten; darunter waren auch Jugendliche, die gegen Gesetze und Normen verstoßen hatten. Sie besorgten in Ketten und unter Gespött öffentliche Reinigungs und Grabarbeiten. «Der am Schellenwerk Verurteilte muss zur Verrichtung der Arbeit, beim Stehen im Halseisen und auf dem schimpflichen Umzug durch die Stadt ein Schandgerät tragen», nämlich ein eisernes Halsband, «woran ein metallener Bügel befestigt war, der vom Nacken her über den Kopf ragte». An diesen Bügel war eine kleine Glocke montiert.
Auch das Fahrende Volk war von dieser entehrenden Zwangsarbeit betroffen, nur weil die Sesshaften in ihrem starr fixierten Regeln Leben soviel Abstand von Natur und Freiheit hatten und in allem, was sie nicht verstanden, die ihnen nur zu gut bekannten Charakterzüge des eigenen Volkes vermuteten. Die angeblich gesetzlosen Wilden hatten ihre eigenen strengen Gesetze, in Einklang mit Gott und der Natur, das wiederum war den Sesshaften unbekannt, um zu Gott zu beten, ging man in die Kirche, wo der Pfarrer das angeblich gottlose Treiben im Zigeunerlager kritisierte.
Bestrafung für vermeintliche Unzucht und Kindesentzug
«Schon zu Anfang des Jahres 1614 war in der Hauptstadt [Bern) für Landstreicher, Bettler, liederliche Haushalter, Müssiggänger,
Kinder wurden aus vermeintlich «verwahrlosten» Familien gerissen, auch Kinder, die Eltern hatten... Die Behandlung der fremden Kinder bestand aus Züchtigung mit Schlägen und Arbeit bei der sesshaften Mehrheit, um sie zu rechtschaffenen, sesshaften Mitbürgern zu erziehen. Wer dem gewohnten Bild nicht entsprach, kam leicht ins Visier von Kategorien wie «ungesunde Verhältnisse», «Verwahrlosung», «Vernachlässigung» oder «sanierungsbedürftiges Milieu». Diese Etikettierungen dienten dann im 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung der Auflösung von Familien durch Zwangsmassnahmen.
Moralischer Defekt und Schwachsinn ?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm man einen ‘moralischen Defekt’ bei Familien Fahrender an, da sie sich, in der Schweiz, trotz Zugehörigkeit zu einer Heimatgemeinde nicht bessern wollten und ihrem vaganten Leben treu blieben. Man nahm an, dass sie schwachsinnig oder getarnt schwachsinnig seien, zu dumm, um zu begreifen, dass man durch sesshaftes Leben, mit wenigen Kindern und einer beständigen Lohnarbeit gut situiert leben konnte und musste, um den Konventionen der Mehrheitsgesellschaft zu entsprechen. Diese Annahme zeigt, dass es da keinerlei Verständnis in die Eigenständigkeit des anderen Volkes gibt.
Ehrfurcht vor Gott
Die Jenischen und die Sinti leben ihre nomadische Kultur genauso selbstverständlich wie die Sesshaften ihre Kultur leben. Die Kultur gehört zum Menschen, man ist, was man ist. Man wehrt sich, wenn einem die eigene Individualität weggenommen werden soll. Das würden die Sesshaften auch machen. Die nachhaltige Arbeit mit Rohstoffen, die zur Kultur der Reisenden gehört, zeugt von der Ehrfurcht vor Gott. Sie ihnen zu nehmen, ist eine Zwangsmaßnahme, die das natürliche Gleichgewicht des Lebens auf Erden zunichte macht und die Kultur der nomadischen Lebensweise schwer beeinträchtigt.
Das Leben im Wohnwagen, der nur wenig Platz beansprucht, ebenerdig. mit der Natur als Wohnzimmer und dem Feuer, an dem man sich am Abend versammelt, sprechen von der tiefen Religiosität der Zigeuner, sowohl der Jenischen als auch der Sinti. Man lebt auf der Erde, in der Natur, verbunden mit dem Schöpfer, mit Gott, der in der Anbetung der Mutter Gottes zum Ausdruck kommt. Gottes Sohn war frei, Gott hat die Menschen als freie Menschen erschaffen, die mit der Erde verbunden bleiben sollen, sich von ihr ernähren dürfen, aber sie auch hüten und schützen müssen.
Dreckige Zigeuner ?
Die Erde auf der wir leben, ist nicht schmutzig, sie ist braun und, wenn es regnet, verwandelt sich so mancher Platz in Schlamm. Die Bewohner von Wohnwagen lassen den Schlamm draußen, sie ziehen die Schuhe aus, bevor sie den Innenraum des Wagens betreten, denn das Wohnwagen-Innere glänzt vor Sauberkeit und Ordentlichkeit. Dort herrscht eine Sauberkeit, die sich die sesshafte Mehrheit nicht vorstellen kann.
“Dreckige Zigeuner” gibt es nicht, das ist eine sehr gemeine Diffamierung, die aus der Sicht von außen auf einen Platz resultiert und das Unverständnis der in Häusern aus Stein lebenden Mehrheit auf die ganz andere Kultur des Fahrenden Volks zeigt. Jeder, der sich einem Wohnwagen genähert hätte, würde gesehen haben, dass die Wagen von innen und aussen vor Sauberkeit glänzten.
Kinderreichtum, ein Geschenk Gottes
Rassenhygiene und Eugenik kreierten eine neue Denkhaltung, die verarmte Unterschicht mit ihren vielen Kindern sollte der angeblich geistig hochstehenden reichen Elite mit den wenigen Kindern Platz machen. Je niedriger in der gesellschaftlichen Hierarchie, desto mehr Kinder, ist eine noch heute gängige Annahme der Mehrheit. Wer auf sich hielt, zeugte nur wenige Kinder (oder hatte im Verborgenen, schamhaft verschwiegen und allgemein bekannt, mehrere Frauen / Doppelmoral). Jenische und Sinti sind sehr gläubige Ethnien, sie hören auf Gott, sie achten die 10 Gebote. Sie lieben Kinder, sie kommen aus großen Familien und sind an große Familien gewöhnt, auch das gehört zur Tradition der nomadischen Lebensweise. Kinder sind ein Geschenk Gottes. Wer viele Kinder hat, wurde von Gott reich belohnt.
Sehr zu Unrecht und völlig verkannt, gehören die Reisenden seitdem zur verarmten Unterschicht im Sprachgebrauch der Mehrheit, die nicht begreift, dass es auch noch andere Werte gibt als Geld, Immobilien und materiellen Sachbesitz. Das lebensunwerte Leben musste dem lebenswerten Leben Platz machen, die Geschichte nahm ihren entsetzlichen Verlauf...
Eine verarmte Unterschicht mit unnützen Essern ?
Auch die Schweiz hat wenig unversucht gelassen, das ‘verwahrloste, heimatlose, fremde Diebesgesindel’ auszurotten. "Das «Hilfswerk» war bestrebt, Kinder sowohl nichtsesshafter als auch sesshafter Familien fahrender Herkunft zu internieren bzw. in Fremdfamilien umzusetzen. Nicht eine reale fahrende Lebensweise der Eltern war das entscheidende Kriterium der Kindswegnahme, sondern die Zugehörigkeit zu einer als kollektive Trägerin sozial schädlicher Eigenschaften eingestuften Randgruppe der Kessler, Korber, Bettler oder Schlimmeres. Bundesrat Heinrich Häberlin (FDP), Stiftungsratspräsident der Pro Juventute, bezeichnete die Jenischen in einer 1927 erschienenen Broschüre als einen «dunklen Fleck in unserm auf seine Kulturordnung so stolzen Schweizerlande», den es zu beseitigen gelte."
Ethnozid und kultureller Genozid
Ethnozid und kultureller Genozid in der Schweiz, Völkermord unter anderem in Deutschland, Österreich, Internierung in Lagern unter unlebbaren Bedingungen in Frankreich… So viel Leid, weil die Mehrheit das Volk der Zigeuner nicht versteht. Noch heute zeugen Vorurteile von diesen überlieferten Denkweisen, die schon damals nicht der Kultur der Jenischen und der Sinti entsprachen, man sah in ihnen nicht die Menschen, die sie waren, sondern verurteilte sie für das, was man in ihnen sah und ihnen unterstellte zu sein.
Gastfreundschaft und Abweisung
Wenn Ihr zu den Reisenden auf einen Platz kommt, seid ihr willkommene Gäste, ihr bekommt zu essen, zu trinken, die Reisenden feiern mit euch das Leben. Sie zahlen die gleichen Steuern wie ihr, sie zahlen Miete, sie kaufen sich, was sie brauchen, genau wie ihr ... sie arbeiten für ihr Geld, genau wie ihr ... was hindert euch daran, sie willkommen zu heissen, in euren Gemeinden? Die Jenischen und die Sinti sind Bürger des Landes in dem sie leben, genau wie die sesshafte Mehrheitsbevölkerung…
